Bericht und Bilder von Urs M. Hemm
erschienen im Tagblatt vom 29. Dezember 2022 >
Der Angriffskrieg Russlands traf Hennadii Zhukov wie aus dem Nichts. Obwohl: Anzeichen dafür, dass Russland angreife, habe es gegeben. Daran wirklich geglaubt habe aber niemand. Jetzt sitzt der 69-Jährige im Seniorenheim Neckertal in Brunnadern und harrt der Dinge. «Wie es weitergeht, wie lange ich hierbleiben kann, weiss ich nicht», sagt er. «In erster Linie aber bin ich dankbar, dass ich überhaupt hier sein darf.»
«Ich musste alles zurücklassen»
Hennadii Zhukov lebte in Krementschuk, einer Stadt am Dnepr, wo er als Busfahrer arbeite. «Als die Bomben- und Raketenangriffe immer heftiger wurden, wusste ich, dass es zu gefährlich wird und ich gehen muss», sagt er. So entschloss er sich, wie schon viele vor ihm, aus Krementschuk zu fliehen. Seine Lebenspartnerin war bereits in die Schweiz geflohen, sodass auch für ihn das Ziel seiner Flucht klar war.
So bestieg er vergangenen April einen Bus und kam über Lemberg im Westen der Ukraine, Polen und Österreich schliesslich in die Schweiz. «Die Flucht verlief ohne Probleme. Ich hatte immer etwas zu essen, zu trinken und Kleider. Aber ansonsten musste ich alles in Krementschuk zurücklassen», sagt Hennadii Zhukov.
Nach einem Aufenthalt im Bundesasylzentrum in Altstätten nahm ihn eine Familie aus Hemberg-Bächli auf. Diese sei nun aber für mehrere Wochen nach Spanien gereist. Da sie ihn während dieser Zeit nicht alleine lassen wollten, konnten sie über die Gemeinde Hemberg den Aufenthalt hier im Seniorenzentrum Neckertal organisieren. Eigentlich würde er gerne bei seiner Partnerin sein, die in Bellinzona untergebracht ist. Doch das sei zurzeit nicht möglich.
Verzweifelt und hilflos
Wut über Russland konnte er anfangs nicht empfinden. «Mein Sohn aus erster Ehe lebt in Russland. Auch sonst haben wir immer gute Beziehungen zu unseren russischen Nachbarn gehabt», sagt Hennadii Zhukov. «Jetzt aber, wo das russische Militär nicht nur militärische Ziele angreift, sondern vor allem Schulen, Kindergärten, Spitäler und Wohnhäuser mit Raketen beschiesst, bin ich nur noch verzweifelt und fühle mich hilflos, ich kann es einfach nicht verstehen.»
Über die Lage in Krementschuk informiere er sich telefonisch jeweils bei einem Cou-Cousin, der noch in der Stadt ausharre. «Zumindest weiss ich so, ob das Mehrfamilienhaus, in dem ich lebte, noch unversehrt ist.»
Was ihm die Zeit hier in der Fremde erleichtere, sei die Musik. «Ich singe, seit ich sieben Jahre alt bin, Gitarre zu spielen, habe ich mit 14 Jahren begonnen.» Noch zu Zeiten der Sowjetunion habe er in einer Volksmusikgruppe gespielt und sei mit dieser auf Tourneen durch viele Städte bis nach Sibirien und Bulgarien gekommen.
Dies, obwohl er keine musikalische Ausbildung habe – das Gitarre spielen hat er sich selbst beigebracht, ohne Noten lesen zu können, das Singen sei ihm wohl in die Wiege gelegt worden.
Zu Hause in seiner Wohnung in Krementschuk habe er zahlreiche Instrumente, vor allem Gitarren, die er aber dort lassen musste. «Wenn du auf der Flucht bist, nimmst du nur das Wichtigste mit», sagt er. Daher ist er dankbar, dass er hier in der Schweiz eine Gitarre geschenkt bekommen habe. «Musik, das Singen, ist mein Leben.»
Damit er diese Freude teilen könne, singt und spielt er regelmässig für die Bewohnenden des Seniorenheims. «Musik ist eine Sprache, die alle verstehen, auch wenn die Liedtexte alle in Russisch oder Ukrainisch sind», meint er.
Rückkehr in die Heimat
Zurzeit versuche er, wieder an seine Papiere zu kommen. «Als ich im Bundesasylzentrum war, habe ich einmal meine Partnerin im Tessin besucht. Als ich zurückkam, habe ich meine Tasche mit all meinen Papieren und meinen medizinischen Unterlagen nicht mehr gefunden», erzählt Hennadii Zhukov.
Ob sie gestohlen wurde oder sonst irgendwie verschwunden ist, wisse er nicht. Sobald sich die Situation in seiner Heimat gebessert habe, wolle er nach Krementschuk zurückkehren. «Meine Wohnung ist dort, meine Instrumente sind dort, mein Leben ist in Krementschuk. Will ich aber zurückkehren, brauche ich einen Pass», sagt er. Er hoffe, bald wieder zu Papieren zu kommen, damit seiner Rückkehr nichts im Wege stehe.
Der Familie in Hemberg-Bächli und den Menschen im Seniorenheim Neckertal ist er sehr dankbar. «Es ist nicht selbstverständlich, dass man fremde Menschen einfach so bei sich aufnimmt», sagt Hennadii Zhukov. Auch gefalle es ihm in der Schweiz. «Vor allem die Berge mag ich sehr», sagt er. Am schönsten jedoch sei es noch immer zu Hause.
(Das Gespräch wurde mit Hilfe von Kateryna Scherrer, Pflegefachfrau im Seniorenheim Neckertal, geführt.)